Warum eigentlich kennt keiner diese Frau, da doch eigentlich alles darauf hindeutet, daß sie in einem Atemzug mit den anderen Heldinnen der Befreiungskriege genannt werden müßte?
Eine gebürtige Jüdin und zweifache Mutter meldet sich freiwillig zur Armee und nimmt als Ulan verkleidet an den Befreiungskriegen teil, kämpft in bedeutenden Schlachten, wird mehrmals verwundet, trägt das Eiserne Kreuz, wird sogar Wachtmeister und das alles im Namen der Liebe, weil sie ihren Mann und Ernährer sucht, der irgendwo zwischen Rußland und Frankreich im russischen Regiment Konstantin Garde-Ulanen – wie sie aber erst zu spät erfahren wird – gegen Napoleon kämpft.
Ist das nicht der Stoff, aus denen Heldinnen gemacht werden? Warum also ist Luise Grafemus vergessen? Die Erklärung ist simpel, die Geschichte ihres Lebens ist einfach zu schön, um wahr zu sein, wie wir später sehen werden.
Zugegeben, wir im Museum kannten die Grafemus auch nicht, erst als wir die Erinnerungstasse aus den Befreiungskriegen ersteigern konnten, fingen wir an uns mit ihr zu beschäftigen. Und mit etwas weiblicher Schadenfreude möchte ich doch anmerken, daß die Herren bei der Ersteigerung offenbar blind für das andere Geschlecht waren – sie hatten das eigentlich Sensationelle nicht realisiert, daß es sich bei dem “gewesenen Wachtmeister” um eine Louise und nicht um einen Louis handelte.
In naiver Manier hat sich die Grafemus in schwarzer Ulanen-Uniform und mit dem EK auf der Brust hoch zu Roß darstellen lassen. Da witterten wir natürlich sofort eine spannende “Objektgeschichte”, wie es reichlich gestelzt im Museolgen-Deutsch heißt.
Die Spurensuche nach der Grafemus, bzw. Esther Manuel, wie sie vor ihrer Hochzeit hieß, verlief nicht ganz einfach. Hie und da fand sich ein Hinweis in der Literatur, meist aber immer wieder gern und ungeprüft aus zweiter und dritter Hand übernommene, kümmerliche Anmerkungen im Vergleich zu den Lobgesängen der patriotischen Geschichtsschreibung über Kämpferinnen wie Auguste Krüger oder Eleonore Prochaska. Bei dem damaligen Stand der Nachforschungen, lagen die Überlegungen nahe, daß sie möglicherweise wegen ihrer jüdischen Herkunft “vergessen” worden war oder aber, daß sie, die ihren Lebensabend in St. Petersburg verbracht hatte, einfach aus den Augen verloren gegangen war.
In Rußland aber hatte sie es schon frühzeitig geschafft, so viel Interesse an ihrer Person zu wecken, daß sie im “Russkij Invalid”, einer Zeitschrift entsprechend dem deutschen “Militärwochenblatt”, in der Ausgabe vom 13. Januar 1815 dem staunenden Leserkreis ihre Lebenserinnerungen schildern durfte. Später erschien ihre Geschichte auch in der “Vossischen Zeitung” (Stück 147 vom 9. Dezember 1815) und in den “Rigaischen Stadtblättern” (Nr. 26 vom 28. Juni 1821). Gesuche vor allem um finanzielle Unterstützung fanden sich in den Akten des Preußischen Kriegsministeriums ebenso wie der dazugehörige Schriftwechsel. Ähnlich eifrig scheint Luise Grafemus deswegen mit dem russischen Kriegsministerium korrespondiert zu haben.
In Deutschland hat sich als erster der jüdische Historiograph Moritz Stern ernsthaft mit ihrer Lebensgeschichte auseinandergesetzt und als Ergebnis noch 1935 in Berlin eine Kurzbiographie veröffentlicht. Seine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt ihrer persönlichen Schilderungen ist fast in jeder Zeile zu spüren – um so gründlicher hat Stern die Aussagen auf historische Fehler und Widersprüche überprüft.
Unbekannt war mir bis vor einiger Zeit die Existenz eines weiteren Aufsatzes, der von einem Nachfahren verfaßt, 1992 im “St. Petersburger Panorama” erschienen ist. Diesen Zufallsfund verdanke ich Frau Irina Jarouchevitch, die ich eigentlich gebeten hatte, im Petersburger Archiv den schon erwähnten Aufsatz im “Russischen Invaliden” zu kopieren (aber wie so oft fehlte natürlich genau der entsprechende Jahrgang). Glücklicherweise haben wir dadurch neue Einblicke in ihr späteres Leben bekommen – das aber auch, weil unser Mitglied, Herr Schubersky dankenswerterweise sofort bereit war, den Aufsatz für mich zu übersetzen.
Der “Russische Invalide” druckte folgenden Artikel:
Luise Grafemus oder der weibliche Uhlan
“…allein ist ihm (d. i. der Herausgeber und Verfasser Paul Pomian Pesarovius) nicht ein Invalide vorgekommen, der mehr Ansprüche auf allgemeine Theilnahme und Achtung machen könnte als obengenannter Uhlan…. Sie ist Mutter zweier in Berlin lebender Kinder. Ihr Mann verließ sie vor mehreren Jahren, kam nach St. Petersburg, wo er sich anwerben ließ und 5 Jahre Dienst that. Als seine Frau Luise Manue… (Schon stellen sich die ersten Fragen: Warum eine falsche Schreibweise des Nachnamens, warum nennt sie sich nicht mit dem Namen ihres Mannes, der doch in der russischen Armee gefochten hat? Und warum dann nicht Esther, fürchtete sie, als Jüdin erkannt weniger Chancen zu haben? Was sie jedoch nicht wissen konnte, ihr Mann, ein Berliner Goldarbeiter namens Müller hatte sich aus unbekannten Gründen erst in Rußland in Grafemus umbenannt deshalb blieben ihre Aufrufe in verschiedenen Zeitungen wohl erfolglos.)… erfuhr, daß die Russische Armee in Theutschland einrückte, entschloß sie sich, den Vater ihrer Kinder aufzusuchen. Da ihr Zartgefühl ihr nicht erlaubte, mit den Soldaten von Berlin aus nach Schlesien zu gehen entschloß sie sich, ihr Geschlecht verheimlichend selbst Soldat zu werden.”
Warum hat sie sich nicht dem Troß als Marketenderin angeschlossen? Erforderte die Verkleidung als Soldat tatsächlich weniger “Zartgefühl”? “Sie entdeckte sich Ihrer Königl. Hoheit, der Prinzessin Wilhelm von Preußen (d. i. Marianne von Hessen-Homburg), die ihr ein Pferd schenkte und sie ganz equipierte, indem sie sich im Blücherschen Korps als Uhlan anstellen ließ. Niemand wußte um ihr Geschlecht als die Prinzessin und der Prinz Wilhelm und der Rittmeister der Eskadron, dem sie von Ihren Königl. Hoheiten empfohlen war.” Es mag erstaunen, daß sich das Prinzenpaar, immerhin der Bruder und die Schwägerin König Friedrich Wilhelms III., derartig für eine einfache Frau engagieren, aber vermutlich lag es lediglich an der ihr eigenen Hartnäckigkeit. Ganz sicher aber ist der Eintritt in das Blüchersche Korps, das in Schlesien lag, unwahr, genau wie die folgende Erwähnung von Bautzen. Allerdings ist es möglich, daß sie mit dem “Blücherschen Korps” die gesamte preußische Armee meinte. Laut späterer Angaben in der “Vossischen Zeitung” ging sie nach Königsberg zum 2. Landwehr-Ulanen-Regiment, was wahrscheinlicher ist, da von Ostpreußen her das Hauptheer der russischen Armee vorrückte und somit hier die Chance größer war, den Vermißten zu finden. Wir müssen ihr die Regimentsangabe blind glauben, denn ihr Name taucht in keiner der Listen auf. Es wäre ja möglich, daß der Rittmeister, dem ihr Geschlecht bekannt war, sie nicht verzeichnet hat.
“Sie focht in allen (!) Treffen des denkwürdigen Feldzuges von 1813. Bey Bautzen erhielt sie einen Schuß in den Hals, bey Hanau einen in den Fuß und bey Metz noch eine Wunde, die sie nöthigte zwey Monate lang im Hospital zu Saarbrück zu bleiben, von wo sie aber wieder zum Regimente ging und mit den verbündeten Truppen in Paris einrückte. Ihr Mann, den sie wiedergefunden hatte (29. März 1814 bei Montmartre), blieb im Gefecht vor Paris. Sie hat durch ihren natürlichen Verstand, durch ihre Gegenwart des Geistes und durch ihre Tapferkeit wesentliche Dienste geleistet, die von der Art sind, daß sie die Aufmerksamkeit der hohen verbündeten Monarchen auf sich gezogen. Die Art, wie sie sich über alles äußert, zeugt von so vieler Delicatesse und von soviel feinem und richtigem Tact, der noch durch ihre Natürlichkeit und den Ausdruck der Wahrheit in ihrem Gesichte, wie in ihren Worten erhöht wird, daß man sich der lebhaftesten Theilnahme an ihrem bis jetzt traurigen Schicksale nicht erwehren kann. Zugleich wird man von Achtung für ihre Grundsätze, wie für ihre zärtliche Anhängigkeit an ihre fernen Kinder durchdrungen. Sie erwartet hier die ersehnte Rückkehr Sr. Maj. des Kaisers, der ihren Verdiensten und ihrer Tapferkeit, ebenso wie Ihre Maj. die Kaiserin Elisabeth, hat Gerechtigkeit erfahren lassen. Mehrere menschenfreundliche Personen haben sie zeither unterstützt, und auch der Herausgeber dieser Zeitschrift hat ihr aus der Invalidenkasse 100 Rbl. eingehändigt…”
Luise hielt sich also in St. Petersburg auf. Kaiser Alexander I. hatte sie im Sommer 1814 mit einem Eilboten zu seiner Mutter Kaiserin Maria Feodorowna gesandt, so jedenfalls erzählt sie es 1821, während der “Russische Invalide” die regierende Kaiserin Elisabeth als Wohltäterin nennt. Fünf Monate wurde sie auf einem Schloß verpflegt. Da eine Rückkehr des russischen Kaisers wegen des Wiener Kongresses in nächster Zeit nicht zu erwarten war, machte sie sich auf den Weg nach Berlin. Ein Empfehlungsschreiben des kommandierenden Generals in Königsberg vom 28. April 1814 verschafft der “Wachtmeistersfrau Luise Grafemus” freies Quartier und Verpflegung auf der Reise. In der preußischen Hauptstadt hofft sie vergebens eine Pension für sich zu erwirken. Denn inzwischen war Napoleon aus der Verbannung auf Elba zurückgekehrt, es herrschte wieder Krieg. Nach der siegreichen Schlacht von Waterloo ziehen die Verbündeten in Paris ein und Luise ist auch schon da! Am 17. April verfaßt sie ein lange geplantes Gesuch an den König:
“…Der glückliche Ausgang des Krieges hat mich, ich muß es offen gestehen, für die drey bey verschiedenen Treffen erhaltenen Blessuren zwar hinlänglich entschädigt, dennoch aber ist meine gegenwärtige Lage äußerst critisch, denn es ist eine bekannte Tatsache, daß mein Ehemann schon früherhin mich mit meinen zwei noch unmündigen Kindern in einem völlig vermögens- und nahrungslosen Zustand schon längst verlassen hat. Von dem patriotischen Eifer und die Vaterlandsliebe jetzt nicht weniger als bei den letzten Feldzügen beseelt, würde ich trotz meines schwachen Körpers keinen Anstand nehmen, den Rest meines Blutes auch für das Vaterland ströhmen zu lassen, wenn mir nicht die Mutterpflicht gegen meine zwei noch unerzogene Kinder solches streng verbiethete…”
Wahrlich herzerweichende Worte voller Patriotismus und auch gefahrlos ausgesprochen – der Krieg war ja schließlich beendet! Sie verschweigt hier tunlichst, daß die Suche nach ihrem Mann, der sie nach kurzer Ehe verlassen hatte, von materiellen Gründen motiviert war und nicht durch “schwärmerische und unglückliche Liebe”. Allerdings wollen wir ihr zugute halten, daß vielleicht doch eine kluge Mischung von Vaterlandsliebe, Pragmatismus und sogar ein echtes Interesse am Kriegshandwerk der Beweggrund war.
Andererseits: Wäre Luise wirklich so in Sorge um ihre Kinder gewesen, wie sie behauptet, warum setzte sie sich dann der Lebensgefahr in den Feldzügen der ganzen Jahre aus? Jedenfalls, der König läßt sich erweichen. Er bewilligt ihr zur Unterstützung und für die Rückreise nach Fulda, das sie als ihren künftigen Wohnort angibt, durch seinen Kriegsminister von Boyen einmalig 30 Reichstaler. Vom Kgl. Departement für Invaliden wird sie zukünftig monatlich zwei Taler erhalten. Sie begibt sich aber statt nach Fulda nach Berlin, vielleicht um die Bewilligung der Pension zu beschleunigen, was erst Ende November in Form einer Nachzahlung geschieht. In Fulda wird ein Geheimer Rat mit den weiteren Zahlungen beauftragt, doch Luise ist immer noch in Berlin. Sie nutzt die Gelegenheit, ihre Geschichte erneut zu vermarkten, die Vossische Zeitung druckt einen Aufsatz, der “der mündlichen kunstlosen Erzählung der Kriegerin treu nachgeschrieben” ist.
Hier gibt sie sich erstmalig und einmalig als ehemalige Jüdin zu erkennen. Als ihren Geburtsort gibt sie Hanau an. Ein Beleg dafür konnte schon Moritz Stern im Laufe seiner Nachforschungen nicht mehr auffinden. Um die Verwirrung noch zu vergrößern, stellt Stern fest, daß Luise in der “Vossischen” irrt, wenn sie den Namen des Regimentskommandeurs mit Major von Hermann angibt: wenngleich es sehr wohl Offiziere gleichen Namens in anderen ostpreußischen Regimentern gab, wurde ihr Regiment von einem Rittmeister von Ciesielski befehligt.
Und was ist mit ihren drei Verwundungen? Bei Bautzen (20./21.Mai), wo sie ihre Halsverwundung erhalten haben will, hat ihr Regiment überhaupt nicht gekämpft. Am Fuß verwundet wurde sie laut dem “Russischen Invaliden” in Jüterbogk (6.September), in der “Vossischen” gibt sie Hanau an. In den “Rigaischen Stadtblättern” hingegen erzählt sie nur von Jüterbogk und Metz. Diese beiden Verwundungen sind auch durch Schreiben von Boyen und Schlieffen bestätigt. 1817 in ihrer Petition an den Zaren (von ihr wird noch zu sprechen sein) behauptet sie sogar, daß sie in der Schlacht bei Waterloo, wo sie nie war, durch einen Schuß ihr rechtes Handgelenk “verloren” habe. Seither könne sie die Perlenstickerei nicht mehr ausüben, worin sie bislang Meisterin gewesen sei. Merkwürdigerweise ist in anderen Schilderungen niemals die Rede von einer so gravierenden Verletzung …
Aber geht sie mit ihrer Mitteilung in der “Vossischen” nun nicht doch zu weit, wenn sie behauptet, zum Wachtmeister befördert worden zu sein? Ein solcher Dienstgrad müßte einfach – Geschlecht hin oder her – in den Listen auftauchen. In behördlichen Dokumenten wird sie lediglich als Wachtmeistersfrau oder -witwe bezeichnet.
Aber es kommt noch besser, sie behauptet, mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden zu sein, nachdem sie auf dem Durchmarsch durch Holland mit dem Bülowschen Armeekorps einen Offizier und sechs Mann gefangengenommen habe (so in den Rigaischen Stadtblättern). Auch hierfür finden sich in keinen Berichten oder in der offiziellen preußischen Ordenliste von 1817 nur die geringsten Anhaltspunkte. Dennoch scheute sie sich nicht, dies auch den russischen Behörden zu melden und sie schaffte es, auch den deutschen Gesandten in St. Petersburg zu täuschen. Ihre Aussagen wurden offenbar ungeprüft hingenommen. Daher konnte sie es ungeschoren wagen, sich 1818 bei der Geburt ihres Sohnes – sie hatte sich mittlerweile mit dem aus Köln stammenden Buchbindermeister Johann Kessenich in Petersburg verheiratet und lebte in Riga – als “gewesener freiwilliger Ulanenwachtmeister und Ritter des schwarzen eisernen Kreuzes” ins Taufregister eintragen zu lassen, allerdings gibt sie sich als eine geborene Hase aus, der jüdische Name Manuel scheint ihr nicht mehr angemessen zu sein. Ihre mit immer neuen Heldentaten angereicherten Geschichten hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Luise konnte sich des öffentlichen Interesses sicher sein. Das beweist auch die Liste der Taufpaten, darunter immerhin der Erbherzog Karl Friedrich von Sachsen-Weimar, der Ehemann der Großfürstin Maria Paulowna, und der Militärgouverneur von Riga, General Marquis Osipowitsch Paulucci.
Aber zurück zu den Grafemus’schen finanziellen Jongleurstückchen seit 1815. Im Dezember dieses Jahres hielt sie sich noch in Berlin auf, ging dann nach Hanau oder Erfurt, ganz sicher aber nicht nach Fulda, das sie ja als ihren Wohnort angegeben hatte. Wir finden sie dann plötzlich in Köln wieder, wo sie sich an den Oberpräsidenten wendet – wegen der Auszahlung ihrer Pension, um deren Bewilligung sie schon vor langer Zeit gebeten habe. Sie wird doch nicht wirklich vergessen haben können, daß ihr die Pension schon längst zugestanden worden war und sie auch schon Zahlungen erhalten hatte! Weitere Überweisungen waren nach Fulda gegangen. Glaubte sie – in der Hoffnung auf mangelnde Kommunikation zwischen den Behörden –, die Dienststellen austricksen zu können?
Generalleutnant von Schlieffen vom Invalidendepartement ordnete daraufhin an, sie solle sich an die Behörden in Fulda wenden und wenn nachweislich keine Lösung zustande käme, solle Köln die Zahlungen von Dezember an übernehmen. Natürlich brauchte dies alles seine Zeit, zumal Luise Grafemus nach Elberfeld übergesiedelt war. Erst im November 1816 erhielt sie rückwirkend zum 1. Januar ihre Pension. Die Zahlungen wurden im März 1817 eingestellt, als sie nach St. Petersburg übersiedelte. Aber Luise wäre nicht die alte Kämpferin gewesen, hätte sie sich in ihrer neuen Heimat nicht sofort an den deutschen Gesandten gewandt, um ihre Forderungen zu stellen. Zu ihrem Glück machte die Auszahlung keine Schwierigkeiten, zumal König Friedrich Wilhelm persönlich sein Placet gegeben hatte. Vorsichtshalber hatte sie sich noch in Köln 1817 ebenfalls mit einem Gesuch an den Zaren gewandt “mit der Bitte ihrer und ihrer Kinder Armut Aufmerksamkeit zu schenken.” Sie hatte offenbar von dem Ukas vom 12. Dezember 1815 gehört, nachdem allen Hinterbliebenen von Soldaten, die in den Napoleonischen Kriegen gefallen waren, Pensionen zugestanden wurden. Es wurde abgelehnt, da ihr Mann nicht in russischen Diensten gestanden habe.
Luise reiste daraufhin sofort nach St. Petersburg und erneuerte über den preußischen Gesandten ihren Antrag. Fürst Wolkonski, der Stabschef, verlangte nunmehr Beweise und Bescheinigungen. Der Herausgeber des “Russischen Invaliden”, Pesarovius, schaltet sich ein und teilt Wolkonski mit: “…ich habe mich versichert, daß diese Luise Grawemus identisch ist mit der Person, über die im “Russischen Invaliden” berichtet wurde, die nach Bezeugung ihrer Vorgesetzten als Ulan im Korps Bülow von Dennewitz gedient hat … Sie erhielt das Eiserne Kreuz und die preußische Feldzugsmedaille. Aussagen und andere Dokumente beweisen, daß sie das Wohlwollen und sogar die Achtung ihrer Vorgesetzten genoß … die vorerwähnte Grawemus hatte den Rang eines Ulanen-Wachtmeisters…. Aus Bescheidenheit trägt sie normalerweise Frauenkleider, hat jedoch eine Ulanen-Uniform in ihrem Besitz…”
Von wem mag der hilfsbereite Perasovius diese Angaben haben, wenn nicht von Luise selbst? Und die wußte gewiß, wie sie die Wahrheit beschönigen konnte. Drei Tage später ergänzt er seine Aussagen noch: Ihr Mann sei 1806 in russische Dienste beim Garde-Ulanen-Regiment in Strelne eingetreten und wäre zum Zeitpunkt seines Todes Offizier gewesen. Russischerseits beginnen die Nachforschungen erneut, in Archiven, im Ministerium, beim Garde-Ulanen-Regiment, aber ein Grafemus ist weder bei den Inskribierten noch bei den Gefallenen aufgeführt. Damit steht für die Behörden fest: Es hat keinen Grafemus gegeben, also gibt es auch keine Pension für Luise.
Natürlich muß es schwer gewesen sein, von nur zwei Talern monatlich zu leben, aber Luise hatte alsbald einen Ausweg gefunden: Sie versah sich mit neuem, erfundenen Ruhm. Sie ließ Tassen mit ihrem Abbild und Darstellung ihrer Heldentaten anfertigen, um sie jetzigen und zukünftigen, meist adeligen Gönnern zu verehren, immer in der Hoffnung auf finanzielle Unterstützung. Die Tasse im WGM zählt sicher auch zu diesen “Einschmeichelungsobjekten”, denn die Formulierung vom “gewesenen Wachtmeister” ist ein immer wiederkehrendes, typisches Merkmal dieser Tassen. Moritz Stern beschreibt auch eine Tasse, die sie auf dem Schlachtfeld von Waterloo zeigt, wo sie, wie erwähnt, nie war.
Nach ihrer Heirat geht das Ehepaar nach Riga, wo sich die hilfsbedürftige, aber clevere Luise an die Redaktion der schon mehrfach erwähnten “Rigaischen Stadtblätter” wandte, um ihre “Lebens- und Leidensgeschichte” erneut abdrucken zu lassen. Erstaunlicherweise erfahren wir hier, aber auch nur hier, daß sie sogar schon unter Yorck vor Riga im Einsatz gewesen sei. Man merke auf, das war im Jahr 1812! Sicher wollte sie mit dieser Aussage die lokale Aufmerksamkeit erregen, obgleich sie ja damals dann auf der gegnerischen Seite gekämpft hätte.
Angesichts dieser Ungereimtheiten fragt man sich nun wirklich langsam, ob nicht auch die Unterstützung der Prinzessin Wilhelm 1813 nur eine erfundene Geschichte ist. Dem Leser dieser Zeilen wird es wohl so gehen wie ihrem Biographen Moritz Stern, der je weiter er ihr Leben erforschte, immer skeptischer dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen gegenüber wurde.
Die Kessenichs blieben nur kurz in Riga, Luises Mann mochte sich den Zunftbestimmungen nicht fügen. Da half auch keine Protektion von oben, er wurde ausgewiesen und zog mit der Familie nach Mitau. Es folgten noch einige Ortswechsel, bis sie schließlich 1827 für längere Zeit in Wilna blieben. Die nunmehrige Frau Kessenich läßt Lithographien mit Portraits von sich anfertigen, auf denen das EK ihre Brust schmückt. Selbst als sie ein erneutes Unterstützungsgesuch mit beigefügtem Portrait im Jahr 1836 einreicht, fiel dem Bearbeiter nicht einmal auf, daß ein Träger des EK s schwerlich nur zwei Taler als monatliche Pension erhalten könnte.
Ihre Pension wurde wegen ihrer durch die vielen Ortswechsel bedingten Unauffindbarkeit seit 1825 einbehalten, aber dann ausbezahlt, als sich 1837 die Familie in St. Petersburg niederläßt und Luise erhält wegen ihrer “bedrängten und bedauernswerten Lage” (ihr Mann war schwer erkrankt und berufsunfähig geworden) vom preußischen Gesandten 100 Rubel. 1852 nochmals 50 Taler.
Sie bekommt noch zwei Kinder, Elisabeth Anna (1824-1906) und Nicolai Heinrich (? – 1866). Die Kinder aus erster Ehe waren offenbar in Deutschland geblieben. Die “Deutsche Gesellschaft” in Petersburg stellt Luise als Leiterin einer Tanzklasse ein, später wird sie Wirtin im ältesten Gasthof der Petersburger Vorstadt an der Straße nach Peterhof, der “Roten Schenke”. Sie versteht es, sich immer wieder mit ihrer bedeutenden Vergangenheit ins Gespräch zu bringen und wird in den 40er Jahren zu einer Berühmtheit, die mehrfach literarisch gewürdigt wird., etwa in dem Gedicht von N. A. Nekrassow “Das herrliche Fest”, wo ihrer Kessenichscher Tanzschule eine Strophe gewidmet wird. Auch E. Saltikow-Schtschedrin erinnert in seinen Memoiren an sie, ebenso wie I. I. Oreussow in “Die Schule der Gardejunker” und Praporschtschikow 1845-1849: “…Die Wirtin war damals eine Frau Kessenich, eine abscheuliche Alte, die in ihren jungen Jahren … in der preußischen Armee gedient habe in der Art wie unsere Jungfrau Durowa – mit dem Unterschied, daß letztere Husar, die Kessenich jedoch Infanterist (sic!) gewesen ist. Dies stand auf einem Aushang in der “Roten Schenke” zusammen mit einem Bild …, wo sie die Uniform eines preußischen Füsiliers (sic!) …. trägt. Die kriegerischen Taten sind, soweit mir bekannt, jedoch nicht in den Tafeln der Geschichte eingetragen. … ”
Luise Grafemus-Kessenich starb im Oktober 1852 und wurde im Familiengrab in Wolkow begraben. Der älteste Sohn aber setzte die militärische Tradition fort – er wurde Offizier in einem russischen Regiment. Ihre Uniform und der Säbel verblieb bis ins 20. Jahrhundert in Familienbesitz, bis sie in den Wirren des Bürgerkrieges verloren gingen.
Ein Fazit zum Fall Luise Grafemus zu ziehen ist schwer; zu eng liegen Dichtung und Wahrheit beieinander und es gibt zu viele Schlußfolgerungen, die nur auf Indizien beruhen. Nur die Geschichte hat ein Urteil gefällt: wer so in Vergessenheit gerät, kann keine “Heldin aus den Befreiungskriegen” sein – schade eigentlich, es wäre so schön gewesen…..
Aber, Halt! Da gibt es doch noch etwas über Luise zu sagen und zwar von dem Schriftsteller Bernt Engelmann in seinem 1981 erschienen Aufsatz “Sonntagnachmittag” im Preußenfilm. Es sei hier allen zitiert, denen die Verwirrung noch nicht total genug ist: “Doch dann gab es doch noch im Winter 1934/35 einen Preußenfilm, der uns beeindruckte: “Schwarzer Jäger Johanna” mit Marianne Hoppe und Gustav Gründgens in den Hauptrollen. Wir waren begeistert von deren Schauspielkunst …zudem hatte ich eine geheime … politisch brisante Hintergrundinformation, die von Frau Pommer, unserer Näherin stammte: Den “Schwarzen Jäger Johanna” hatte es wirklich gegeben . Nur hatte er, richtiger sie, Luise geheißen, war im Feldzug 1813/14, als Mann verkleidet, bei den Lützower freiwilligen Jägern im Felde gewesen, zweimal verwundet, wegen Tapferkeit zum Wachtmeister befördert und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. Soweit stimmten Frau Pommers Mitteilungen völlig überein, mit dem was wir auch in der Schule darüber gehört hatten. Der Clou aber bestand darin, daß dieser heldenhafte “schwarze Jäger, Luise, verehelichte Grafemus, als Esther Manuel zu Welt gekommen war … und nach den strengen Rasseregeln der Nazis hundertprozentig als “nichtarisch” gelten mußte. Sie war nämlich Jüdin gewesen.
Frau Pommer konnte das auf Ihren Eid nehmen, denn sie war eine Urenkelin dieser Wachtmeisterin Grafemus und hatte deren Eisernes Kreuz, das mitsamt einigen Papieren und einem zeitgenössischen Portrait der mutigen Vorfahrin, natürlich in Jägeruniform, noch von den Enkeln in hohen Ehren gehalten worden war, mit eigenen Augen gesehen….”